Sehr geehrte, geschätzte Leserinnen und Leser
Als Schuhmachermeister habe ich mein Leben lang gewusst: Man kann einem Fuß nur das zumuten, wofür die Natur ihn eingerichtet hat. Ein gut gegerbtes Leder hält mehr aus, aber die Zehen bleiben, was sie sind – von der Evolution über Jahrtausende geformt, um in einem Umkreis von Großsteinberg vielleicht zehn bis zwölf Kilometer pro Tag zurückzulegen, nicht mehr. Und so ist es, meine ich, auch mit unserem Herzen und unserem Verstand.
Wir leben, das muss man neidlos anerkennen, im Zeitalter der Informationsflut, genauer gesagt, der Informations-Sintflut. Zu meiner Zeit, da wusste man vom Leid, das war lokal begrenzt: Der Nachbar hat den Hühnerstall verloren, dem Vetter ist der Ofen explodiert, die Ernte war mager. Das war schlimm, gewiss, aber es war verarbeitbar. Es waren Dramen in Sichtweite, die man entweder mit einem guten Rat, einem Händedruck oder einer kräftigen Spende einer Tasse Mehl bewältigen konnte.
Heute? Heute öffnet man morgens das sogenannte „Internet“, dieses Zauberding, das die ganze Welt in eine Schachtel steckt. Und mit einem Male stürzen Erdbeben, Hungersnöte, politische Wirren, Kursschwankungen und das Drama des Eisbären, der auf einer Eisscholle treibt, gleichzeitig auf unser kleines, privatwirtschaftlich organisiertes Gemüt ein. Die Anzahl der Probleme scheint ins Unermessliche gestiegen zu sein. Dabei, und das ist der eigentliche Pfefferkorn’sche Gedanke dahinter, ist die Anzahl der Probleme wohl gleichgeblieben. Es ist die Anzahl der Informationen über diese Probleme, die uns schier erdrückt.
Wir sind, meine Damen und Herren, von unserer Ausstattung her, seelisch und moralisch, für das sogenannte „Dorf“ ausgerüstet. Für die Probleme von vielleicht dreihundert Menschen, deren Gesichter wir kennen und deren Sorgen wir persönlich einschätzen können. Unser Mitgefühl ist eine kostbare, aber begrenzte Ressource. Wir sind darauf geeicht, dem Kind am Brunnen zu helfen, das wir kennen, nicht den fünfhunderttausend Unglücklichen am anderen Ende der Welt, die uns als bloße Zahlen oder verpixelte Bilder erreichen.
Und so entsteht dieses seltsame, moderne Leiden: das **Weltschmerz-Korsett**. Wir fühlen uns verpflichtet, das gesamte Elend der Welt in uns aufzunehmen, weil es uns ja nun einmal präsentiert wird. Wir empfinden eine diffuse Schuld, weil wir nicht alle Probleme lösen können. Das Ende vom Lied ist oft eine geistige Lähmung – eine hilflose Überforderung, die uns am Ende daran hindert, auch nur das kleine Leid vor unserer eigenen Haustür kraftvoll anzugehen.
Vielleicht sollten wir uns angewöhnen, dieses Internet nur als ein großes, sehr lautstarkes Telefonbuch zu betrachten. Und uns daran erinnern, dass selbst die fleißigsten Schuhmacherfüße nur so weit gehen können, wie sie tragen. Das ist keine Aufforderung zur Kaltherzigkeit, sondern zur seelischen Selbstpflege. Denn nur wer seinen eigenen Seelen-Schuh gut pflegt, kann überhaupt noch einen Schritt für andere tun.
In diesem Sinne: Bleiben Sie bei allem Wissen um die Welt vor allem sich selbst und Ihren unmittelbaren Nächsten treu. Der Schuster soll bei seinen Leisten bleiben, und der Mensch bei seinem überschaubaren Wirkungskreis.
Ihr alter Karl Pfefferkorn, der sich fragt, ob es nicht gesünder war, als die Zeitung nur einmal wöchentlich erschien.


