Sehr geschätzte Leserinnen und Leser,
Als einfacher Schuhmachermeister habe ich in meinem Leben schon so manchen Schuh auf die Leisten gespannt und dabei über die wundersamen Wege des menschlichen Geistes sinniert. Besonders im Advent, dieser Zeit der Besinnlichkeit und der, nun ja, *unglaublichen* Ausgaben, fällt mir eine Diskrepanz auf, die mir schier den Atem raubt. Es ist das Phänomen der **“selektiven Knauserigkeit“**, das uns alle erfasst.
Beobachten Sie sich doch einmal selbst, werte Damen und Herren. Am Montagfrüh, da wird der Discounter gestürmt. Mit dem Adlerblick eines Jägers taxieren wir die Preise. Ein Aufschrei der inneren Empörung, wenn die Butter 10 Cent teurer ist als letzte Woche! Wir drehen und wenden die Dosen, vergleichen Prospekte und wägen ab, ob der kleine Umweg zum Nachbargeschäft sich für die Ersparnis von, sagen wir, 20 Pfennig (oder heute Cent, die Inflation ist ja auch in der Sprache zu Hause) lohnt. Hier sind wir die stahlharten Hüter des Haushaltsbudgets, die wachsamen Wächter des Groschengrabens.
Doch lassen Sie uns den Kalender ein paar Tage weiterblättern. Der Freitagabend naht, und mit ihm der Duft von Zimt, gebrannten Mandeln und der süßlichen Verheißung des Weihnachtsmarktes. Plötzlich, meine Damen und Herren, ist die sorgsam gepflegte Sparsamkeit wie vom Winde verweht. Fünf Euro für ein kleines Tässchen Glühwein – ein Getränk, dessen genaue Zusammensetzung oft im Nebel der winterlichen Nacht verborgen bleibt – werden mit einer Nonchalance hingelegt, die man sonst nur Königen zugesteht. Fünf Euro! Das sind 50 von jenen 10-Cent-Ersparnissen, für die wir am Montag noch fast den Ellbogen eines Mitbürgers in Kauf genommen hätten!
Woher rührt diese Metamorphose? Es ist die **Psychologie des Moments**, die uns in die Knie zwingt. Im Supermarkt ist die Sparsamkeit eine Tugend, ein sichtbarer Beweis unserer Vernunft. Auf dem Weihnachtsmarkt hingegen ist die Großzügigkeit (oder sagen wir besser: die Gleichgültigkeit gegenüber dem Preis) ein Zeichen der Teilhabe, des Festes, der Entschleunigung. Wir bezahlen nicht nur das Getränk, wir bezahlen die **Atmosphäre**, die beleuchteten Buden, das Gefühl, ein Teil von etwas Schönem und Vergänglichem zu sein. Man könnte sagen, der Glühwein-Taler ist die Eintrittskarte zur kollektiven Illusion der Vorweihnachtszeit.
Und so balancieren wir Woche für Woche zwischen dem Diktat der Vernunft und dem Sirenengesang der Gemütlichkeit. Beides gehört wohl zum Menschsein dazu: die scharfe Klinge der Kalkulation und die sanfte Wärme des Augenblicks. Hauptsache, wir behalten beim hastigen Schlürfen des Glühweins noch ein wenig Würde, um am nächsten Montag wieder mit unerbittlicher Strenge die Preise zu vergleichen.
Ich wünsche Ihnen ein frohes Feilschen und ein wohlmundendes Verprassen!


