Geschätzte Leserinnen und Leser,
ich gestehe: Ich bin ein Beobachter. Und was ich in letzter Zeit mit wachsender Verwunderung beobachte, ist die schier atemberaubende Geschwindigkeit, mit der uns der sogenannte „Fortschritt“ um die Ohren saust. Man kommt sich vor wie ein Passagier in einer Kutsche, die plötzlich ein Raketenantrieb verpasst bekommen hat – und der Kutscher ruft fröhlich: „Keine Sorge, die Bremsen sind in der Cloud!“
Die Metapher vom hundertjährigen Schlaf der Dornröschen ist da beinahe schon ein unterschätztes Drama. Wer heute nur ein einziges Jahr lang „schläft“ – sprich: sich nicht aktiv mit jeder neuen App, jedem neuen Update oder jedem neuen „Smart-Gerät“ auseinandersetzt –, der wacht nicht in einer gemächlich anderen, sondern in einer schlichtweg fremden Welt auf.
Denken Sie nur an die Simplizität der Dinge von einst. Vor gar nicht allzu langer Zeit, da war ein Kühlschrank dazu da, Dinge kühl zu halten. Punkt. Er verlangte weder eine WLAN-Verbindung noch sendete er Ihnen eine Mitteilung, dass die Milch zur Neige geht. Heute hingegen scheint jedes Haushaltsgerät ein verstecktes Genie mit Sendungsbewusstsein zu sein. Die Kaffeemaschine möchte Ihre Vorlieben studieren, das Auto diskutiert mit dem Navigationssystem über die beste Route, und selbst der einfache Toaster scheint mir neulich eine E-Mail mit einem „Firmware-Update“ gesendet zu haben. Ich überlege ernsthaft, ob ich ihn demnächst siezen muss, so anspruchsvoll ist seine digitale Persönlichkeit geworden.
Das Fatale an dieser Beschleunigung, meine Damen und Herren, ist nicht die Innovation selbst, sondern die Kultur der ständigen Unfertigkeit, die sie begleitet. Alles ist eine Beta-Version unseres Lebens. Nichts wird mehr fertig ausgeliefert. Statt ausgereifter Produkte erhalten wir „potenzielle Meisterwerke“, die wir dann als zahlende Kunden im laufenden Betrieb testen und deren Macken wir geduldig in Kauf nehmen müssen. Kaum hat man ein neues Smartphone konfiguriert und sich an die leicht veränderte Platzierung der Tasten gewöhnt, steht das Nachfolgemodell bereit, das alles wieder anders macht. Ist das Fortschritt? Oder ist das nicht vielmehr ein cleveres Geschäftsmodell, das unsere Aufmerksamkeit und Kaufkraft in einem Zustand chronischer Unsicherheit hält?
Die Ironie des Ganzen ist doch: Wir jagen der vermeintlichen Effizienz hinterher, erzeugen aber im Grunde nur digitalen Stress. Wir sparen vielleicht zwei Minuten bei der Banküberweisung, verbringen aber eine halbe Stunde damit, herauszufinden, warum die Sprachsteuerung des Fernsehers auf Latein umgestellt hat. Am Ende des Tages haben wir mehr Zeit mit der Verwaltung der Komplexität verbracht, als wir durch die Technologie gewonnen haben.
Vielleicht sollten wir uns kollektiv darauf besinnen, dass die größten Errungenschaften des Lebens oft die sind, die langsam reifen und Bestand haben. Ein gutes Brot, ein vertrauensvolles Gespräch, ein handgeschriebener Brief – diese Dinge benötigen keine Updates, sie sind schon in ihrer ursprünglichen Form perfekt.
Lassen Sie uns also hin und wieder einen Moment innehalten. Die technische Stoppuhr anhalten, eine Tasse Kaffee genießen und über das Erreichte nachdenken, anstatt blindlings der nächsten, noch schnelleren Neuerung hinterherzurennen. Denn in der Ruhe, meine lieben Leser, liegt nicht nur die Kraft, sondern oft auch die wahre Erkenntnis.
Ihr Karl Pfefferkorn, der seinen Toaster nur noch mit gesenktem Blick bedient.


