Geschätzte Leserinnen und Leser,
gestatten Sie mir, Sie heute auf eine kleine Zeitreise der Erkenntnis mitzunehmen – eine Reise, die uns von der mechanischen Präzision des Vergangenen bis zur digitalen Überwältigung der Gegenwart führt. Das Vehikel dieser Reise ist eine einfache, aber oft vergessene Frage: „Kann denn das stimmen?“
Als ich noch in meiner Schusterwerkstatt zu Großsteinberg zugange war, gab es für die anspruchsvolleren Kalkulationen von Material und Schuhwerkzeugen mitunter den Rechenschieber. Man schob an diesem wundersamen Stück Mechanik herum, und heraus kam eine Ziffernfolge, die – man höre und staune – eine Lösung versprach. Aber, und hier lag der wahre Geistestest, der Rechenschieber lieferte Ihnen weder das Komma noch die Dezimalstelle mit. Ob das Ergebnis nun 0,06, 6, 60 oder 600 war, mussten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, selbst herausfinden. Man musste überschlagen, denken, eine kurze Plausibilitätsprüfung vornehmen, um die Kommastelle zu lokalisieren. Mit anderen Worten: Die Technik half, aber die Verantwortung für die Wahrheit lag beim Anwender.
Dann kam der Taschenrechner. Ein kleines Kästchen, das Ihnen das exakte Resultat auf dem Display präsentierte – Komma und alles. Viele dachten: „Herrlich, jetzt ist das Selberdenken obsolet!“ Ein Irrtum, der so manchen Statiker oder Buchhalter ins Unglück stürzte. Denn wer sich blind auf die Ziffern verließ, bemerkte einen simplen Vertipper – aus dem geplanten 5.000 wurde schnell mal 500 (oder umgekehrt) – oft erst, wenn das gesamte Bauwerk wackelte oder die Bilanz den Bach hinunterging. Die eine vergessene oder zu viel getippte Null, die kleine geistige Nachlässigkeit, führte zur zehnfachen Katastrophe. Ohne die blitzschnelle Plausibilitätsprüfung im Kopf wurde der Taschenrechner zur digitalen Stolperfalle.
Und genau hier liegt der Kern des heutigen Dramas, meine Damen und Herren der digitalen Welt. Wir haben heute KI-Assistenten, die Texte generieren, Bilder malen und uns auf den Meter genau durch das dickste Verkehrschaos lotsen. Wir haben Werkzeuge, die uns unglaubliche Arbeitsersparnis bescheren, ein wahrer Segen – keine Frage! Aber diese Wunderwerke der Technik nehmen uns nicht die Pflicht ab, das eigene Gehirn einzuschalten.
Wenn die Navigations-App Sie unerbittlich auf einen morastigen Feldweg schickt, der offensichtlich nur für Ackergaul und Traktor gedacht ist, oder der KI-generierte Text zwar elegant formuliert, aber inhaltlich völliger Blödsinn ist – dann, ja dann, müssen unsere inneren Alarmglocken schrillen. Wir müssen uns – kurz, knackig und ohne langes Zögern – die einfache Frage stellen: „Kann denn das stimmen?“
Die Plausibilitätsprüfung, dieser kurze Reality-Check im Kopf, ist unser Schutzschild gegen digitale Fehltritte. Es ist das, was uns zu souveränen Nutzern macht, statt zu willenlosen Befehlsempfängern einer leuchtenden Anzeige. Denn selbst die ausgeklügeltste künstliche Intelligenz kann nur so klug sein, wie das menschliche Gehirn, das sie kontrolliert. Wir sind die letzte Instanz der Vernunft.
Denken Sie also stets daran: Die Fähigkeit zur kritischen Gegenprobe ist die wichtigste „Software“, die Sie besitzen. Und sie funktioniert ganz ohne Akku.
Herzlichst, Ihr Karl Pfefferkorn, der beim Aufräumen seinen alten Rechenschieber gefunden hat.


