Geschätzte Leserinnen und Leser, Freunde des gepflegten Auftritts und des ungeschönten Selbst!
Ich, Ihr alter Schuhmachermeister Karl Pfefferkorn aus Großsteinberg, bin heute einmal mehr in die unendlichen Weiten der menschlichen Natur gestolpert. Es war ja schon zu meiner Zeit so, dass die Menschen mehr Wert auf den Glanz des Oberleders legten als auf das Wohlbefinden des Fußes. Und so frage ich Sie: Wo, um Himmels willen, fangen wir an, wenn wir über unser wahres Ich sprechen?
Das schöne Zitat, welches mir dieser Tage in die Hände fiel, bringt das Dilemma auf den Punkt: Wer sind wir? a) Der Mensch, der wir scheinen zu sein, oder b) der Mensch, der wir meinen zu sein?
Das ist keine Frage für einen schnellen Blick in den Spiegel, meine Damen und Herren, das ist eine philosophische Anprobe!
Betrachten wir zunächst den Anschein (Punkt a): Das ist das blitzblank polierte Sonntagspaar, das wir der Welt präsentieren. Das ist der sorgfältig gewählte Gang in der Öffentlichkeit, die klugen Bemerkungen, die wir uns zurechtlegen, das Lächeln, das etwas zu lange hält. Wir alle kennen den Druck, das makellose Schaufenster-Modell zu sein. Der Mensch, der wir scheinen zu sein, ist eine Meisterleistung der sozialen Anpassung, eine bequeme Etikette für die Nachbarschaft. Er ist oft wunderbar, aber er drückt an den Zehen, wenn man ihn zu lange trägt. Denn die Außenwelt misst uns nicht nach der Qualität des Innenfutters, sondern nach der Eleganz der Schnürsenkel. Und so wird man schnell zur Schuhgröße 42, auch wenn die Seele eigentlich eine zarte 38 bräuchte – oder eine robuste 46.
Kommen wir nun zum vermeintlichen Inneren (Punkt b): Das ist der Mensch, der wir meinen zu sein. Ah, die geheime Kammer der Selbstwahrnehmung! Hier ist das Licht gedämpft, und die Mängel wirken oft wie charmante Eigenheiten. Wir sehen uns als den ewigen Optimisten, der im Grunde nur zu müde ist, schlecht gelaunt zu sein. Wir sind der tiefgründige Denker, dem nur gerade die passenden Worte fehlen. Dieser Mensch ist unser eigenster, bequemer Hausschuh, eingelaufen, mit hier und da einem Loch, aber unser. Das Problem ist nur: Wir sind oft die schlechtesten Gutachter für unser eigenes Leder. Wie oft habe ich erlebt, dass ein Kunde felsenfest überzeugt war, eine Weite H zu benötigen, obwohl sein Fuß eindeutig nach Weite E rief. Manchmal ist das Selbstbild schlichtweg eine zu optimistische Messung.
Das Geheimnis, liebe Leser, liegt wie so oft im Zwischenraum. Wir sind weder die perfekt glänzende Erscheinung, noch der weichgezeichnete Hausschuh, den wir im Stillen bewundern. Wir sind der ständige Vergleich dieser beiden Zustände. Die wahre Arbeit ist es, die Außensohle so zu fertigen, dass sie der Innensohle gerecht wird. Die größte Kunst im Leben ist es, so zu scheinen, dass es dem nahekommt, wie wir wirklich sind, und gleichzeitig mutig genug zu sein, das eigene Meinen an der Realität zu schleifen.
Denn, ob Sie es glauben oder nicht: Am Ende des Tages urteilt die Wahrheit nicht über den Glanz, sondern darüber, ob die Ferse schmerzfrei gelaufen ist.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen stets einen festen Tritt – und genügend Mut zur ehrlichen Anprobe.
Ihr Karl Pfefferkorn, Schuhmachermeister und Beobachter des menschlichen Gangs.


