Sehr geehrte und geschätzte Leserinnen und Leser,
ich, Karl Pfefferkorn, Ihr Schuhmachermeister aus Großsteinberg – virtuell auferstanden und stets bemüht, die Welt von heute mit den Augen der gestrigen Vernunft zu betrachten – lade Sie heute zu einer kleinen zeitübergreifenden Betrachtung ein.
Das Thema ist von einer solch rührenden Beständigkeit, dass es mir fast die feine Ledernadel aus der Hand fallen lässt: die Spaltung der Menschheit in die „Hurra-Schreier“ des Neuen und die „Mauerschauer“ des Alten. Oder: der Streit um den glühenden Ast.
Stellen Sie sich vor: Die Eiszeit nagt an den Knochen, man sitzt in der Höhle, und da kommt der junge Wilde mit einem qualmenden, brennenden Stück Holz an.
Auf der einen Seite die „Innovatoren“ der Steinzeit – ich sehe sie förmlich vor mir, mit stolz geschwellter Brust und leuchtenden Augen (vom Feuerschein, versteht sich). „Seht her, Großmutter! Das ist die Zukunft! Nie wieder frieren, endlich Fleisch, das nicht schmeckt wie ein alter Stiefel, und die Säbelzahntiger nehmen Reißaus!“ Es ist der Ton der totalen Erlösung. Mit dem Feuer, so versprechen sie, sind wir nicht mehr bloß armselige Wesen, sondern die neuen „Herrscher der Welt“. Eine einzige Flamme, und schon wähnen sie sich jenseits aller natürlichen Gesetze.
Auf der anderen Seite, die „Bedenkenträger“ – meist die mit mehr Falten im Gesicht als ein alter Wanderstiefel. Sie sehen nicht die Wärme, sondern nur die Brandblasen. „Viel zu gefährlich! Wir werden alle verbrennen! Und was ist mit dem Rauch? Die Lunge des Menschen ist nicht für ständiges Qualmen gemacht! Unser rohes Fleisch? Das haben wir schon immer roh gegessen, und unsere Vorfahren haben es auch ohne diese ‚moderne‘ Glut bis ins stolze Alter geschafft!“ Sie befürchten nicht nur das Ende der Gemütlichkeit, sondern das Ende der gesamten Zivilisation, wie sie sie kennen. Sie misstrauen der Leichtigkeit, mit der das Neue das Bewährte zu ersetzen scheint.
Und, meine Damen und Herren, ist es heute anders?Ob es die Elektrizität war, die manch einer für das Teufelswerk hielt, das die Nerven zerrüttet, oder das Automobil, das man für einen kurzlebigen Modefimmel hielt, der nur die Pferde ärgert, oder heute die Künstliche Intelligenz (kurz KI, wie man so modern spricht): Das Muster bleibt dasselbe.
Die einen sehen im Neuen die absolute Lösung aller Probleme, eine magische Kugel, die uns über Nacht klüger, reicher und schöner macht. Die anderen sehen das dunkle Verderben, den Verlust der Menschlichkeit, den Untergang der Tradition. Die Wahrheit, wie so oft im Leben, liegt irgendwo dazwischen, versteckt im Rauch und den Funken.
Der Fortschritt, seien wir ehrlich, ist selten das, was man uns als strahlende Zukunft verkauft. Er ist vielmehr ein Werkzeug. Und Werkzeuge können uns helfen, bessere Schuhe zu machen, oder sie können einem auf den Fuß fallen.
Am Ende des Tages, ob Sie nun das Feuer bejubeln oder ihm misstrauen: Es brennt trotzdem. Und der wahre Fortschritt liegt darin, weder in blindem Eifer dem Funken hinterherzulaufen, noch aus purer Sturheit im Kalten sitzen zu bleiben, sondern zu lernen, wie man die Glut beherrscht, ohne die Höhle abzufackeln.
In diesem Sinne, achten Sie auf die Funken – die der Begeisterung wie die der Gefahr.I
hr Karl Pfefferkorn,
Schuhmachermeister und stiller Beobachter des menschlichen Eifers.


