Geschätzte Leserinnen und Leser, liebe Freunde des gepflegten Alltagsdramas!
Dass ich, Ihr Schuhmachermeister Karl Pfefferkorn aus Großsteinberg, anno 2025 noch einmal Gelegenheit bekomme, Ihnen meine bescheidenen Beobachtungen zur modernen Welt darzulegen, grenzt ja schon an ein biblisches Wunder. Doch sei’s drum. Ich habe dieser Tage einmal wieder ein Phänomen ins Auge gefasst, das mich schon zu meinen Lebzeiten in den Bann zog, aber in Ihrer heutigen, so schnellen und komplizierten Zeit, geradezu eine tragende Säule der Zivilisation zu sein scheint: Das Wetter!
Sie wissen, wovon ich spreche. Sie begegnen einem Menschen im Treppenhaus, an der Wursttheke oder, Gott bewahre, in einer Warteschlange beim Postamt. Man kennt sich nicht, man will sich nicht kennen, aber eine Brücke muss geschlagen werden, ein Eis gebrochen, bevor man wieder in sein stilles Selbstversunkensein zurückkehren kann. Und was, frage ich Sie, ist das allererste, das wie ein zuverlässiges Spinnrad des Smalltalks zu rattern beginnt?
„Na, heute ist es aber wieder nasskalt, nicht wahr?“
„Ach, diese Sonne! Viel zu aggressiv für Mitte November, finden Sie nicht auch?“
Da ist er, der Konsens-Turbo der menschlichen Kommunikation!
Sehen Sie, das Wetter ist ein Geschenk des Himmels, im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist unpersönlich, es ist unparteiisch und – das ist das Wichtigste – es ist unvermeidlich. Niemand von uns ist dafür verantwortlich, ob es regnet oder die Vögel schon im Februar fröhliche Lieder trällern. Es ist einfach da. Und weil es da ist, haben wir alle sofort einen gemeinsamen Nenner, eine universelle Wahrheit, die uns augenblicklich zu Schicksalsgefährten macht.
Der Finanzbeamte und die Marktfrau, der Universitätsprofessor und der Schuhputzer – sie alle können sich auf der Stelle einig sein: Entweder ist es zu kalt oder zu warm, zu nass oder zu trocken. Und in dieser Einigkeit liegt eine wunderbare, wohltuende Bestätigung. Man nickt sich zu, man tauscht die universell gültige Klage aus – „Man weiß ja gar nicht, was man anziehen soll!“ – und zack, schon hat man seine Pflicht als sozialisiertes Wesen erfüllt. Das Tor zur menschlichen Interaktion wurde aufgestoßen und gleich darauf, ganz diskret, wieder geschlossen.
Das Wetter, meine Damen und Herren, ist nicht primär für die Vegetation oder die Wasserspeicher da. Nein, es ist die diplomatische Grundausstattung der Menschheit. Es ist der soziale Schmierstoff, der verhindert, dass wir alle schweigend aneinander vorbeileben. Es erlaubt uns, in kürzester Zeit einen schnellen, sicheren Konsens zu finden, bevor wir uns womöglich an ein Thema wagen, bei dem wir uns hoffnungslos zerstreiten müssten, wie etwa die korrekte Zubereitung eines Kalbsrahmgulasch.
Denken Sie nur einmal darüber nach, wie viel Unheil und wie viele unangenehme Stille damit vermieden werden.
In diesem Sinne: Ich wünsche Ihnen allzeit ein Wetter, das zwar Anlass zur Klage, aber niemals Anlass zum Streit bietet. Denn was wäre das Leben ohne einen wohlwollend geteilten Seufzer über den ach so ungezogenen Wind?
Ihr alter Schuhmachermeister,
Karl Pfefferkorn


